Vertreibung und neues Zuhause

 

Pfingstsonntag 1946 ist ein kühler, regnerischer Tag. Über eine von Alleeblumen gesäumten Straße fahren von Pferden gezogene Leiterwegen, die mit Kisten, Bündeln und Säcken beladen sind. Darauf hocken und liegen alte und junge Frauen mit verweinten Gesichtern, verängstigte Kinder und einige alte Männer mit verbitterten Minen. Kaum jemand spricht, allen ist die Sorge um die Zukunft ins Gesicht geschrieben.

Die Wagen kommen aus Mostau an der Eger und sind auf dem Wege nach Eger in das Auffanglager,  für die von den Tschechen vertriebenen Deutschen aus der Umgebung von Eger.  Seit Wochen rollen sie aus allen Richtungen in die Stadt, zum ehemaligen Franziskanerkloster, in dem das Lager eingerichtet ist.

Im Vorhof des Lagers wurden die Habseligkeiten abgeladen. Pro Person durften nur 50 kg mitgenommen werden. Mancher hatte jedoch noch nicht einmal soviel zusammenbekommen, denn durch Bomben, Plünderung und Beschlagnahme ist mancher Familie nur das Nötigste geblieben. Oft mußten Verwandte und Bekannte aushelfen um die größte Not zu lindern.

Ein großes Problem war die Auswahl der Sachen, die man mitnehmen wollte bzw. mitnehmen durfte. Durch ein Gesetz der Prager Regierung aus dem Jahre 1946 war das gesamte Eigentum der deutschen Bevölkerung vom tschechischen Staat beschlagnahmt worden.

Seit Monaten wurden die verschiedensten Gerüchte und Parolen verbreitet. Jeder wollte es besser wissen, was man mitnehmen sollte und wie man es am besten verpackte. Dauernd wurde sortiert, eingepackt und wieder ausgepackt, weil man verschiedene Sachen wieder brauchte und zu schließlich blieb in dem Durcheinander manches gute Stück zurück.

Weil uns der tschechische Bürgermeister vergessen hatte, bekamen wir die Anweisung zur Abreise erst einen Tag vor dem Abfahrtstermin.  Da mein Bruder Karl und ich bei Bauern in anderen Dörfern arbeiteten, mußten wir eiligst verständigt werden. Meinem Bauern war es gar nicht recht, daß ich fortging, denn am Vormittag hatte er gerade das erste Heu gemäht. Nachdem ich ihn überzeugt hatte, daß ich nicht bleiben konnte, zahlte er mir meinen Lohn aus und gab mir noch einen großen Laib Brot mit auf die Reise. Bei dieser tschechischen Familie hatte ich es ganz gut und sie waren auch keine Deutschenhasser wie manch andere Tschechen im Dorf.

Mit meinem Lohn konnte ich allerdings nichts anfangen. Weil es inzwischen Samstag Nachmittag war, hatten die Geschäfte schon geschlossen. Mitnehmen durfte man das Geld auch nicht. Ich hatte ein halbes Jahr nur für das Essen gearbeitet. Das Geld haben wir einer armen Familie geschenkt. Von dem Laib Brot haben wir noch nach unserer Ankunft in Burgsolms gezehrt.

Nach dem Ausladen vor dem Lagereingang begann das Warten auf den Aufruf zur Gepäckkontrolle. Meterweise konnte man vorrücken, immer darauf bedacht, in dem Durcheinander nichts zu verlieren. Kinder weinten, Mütter schimpften und immer wieder suchte jemand nach einem verlorenen Gepäckstück. Um die Mittagszeit kamen wir endlich in den Saal in dem unsere Habseligkeiten von tschechischen Beamten kontrolliert wurden. Wertgegenstände wurden rigoros beschlagnahmt und manche Familie stand nach der Kontrolle mit leeren Händen da, man hatte ihr alles abgenommen. Widerspruch wurde nicht geduldet und Widerspenstige mußten mit einer Tracht Prügel rechnen. Besonders Frauen hatten unter den schamlosen Untersuchungsmethoden zu leiden. Nachdem man die Filzung mit viel Nervenflattern hinter sich gebracht hatte, bekam jeder seine Unterkunft und seine Schlafpritsche zugeteilt. Wir mußten in das dritte Stockwerk. Anschließend begann die Suche nach unserer Habe. Die Helfer hatten sie im ganzen Gebäude, wo sie einen freien Platz fanden, abgestellt. Abends hatten wir alles, bis auf eine Tasche mit Lebensmitteln, wieder beisammen.  Der Raum, in dem wir untergebracht waren und in dem wir die nächsten Tage zubringen sollten, war mit etwa einhundert doppelstöckigen Holzpritschen belegt. Nachdem wir unsere Sachen verstaut hatten, machten wir uns mit unseren Bettnachbarn bekannt, erkundigten uns, wer sie waren und woher sie kamen. Bei uns waren Leute aus Dürrngrün. Als Nachtruhe geboten wurde, kroch jeder in seine Schlafkiste. Doch zum Schlafen kam man wegen der Unruhe im Saal nicht und die Aufregung des vergangenen Tages ließ die Nerven nicht zur Ruhe kommen. Erst spät in dar Nacht stellte sich der Schlaf ein.

Das ehemalige Kloster, in dem wir untergebracht waren, bestand aus zwei großen Gebäuden mit mehreren Stockwerken. Ein großer Saal diente als Lager für die Sachen, die man den Vertriebenen abgenommen hatte. Vom Klosterhof hatte man einen schönen Ausblick auf die im Tal fließende Eger und auf das Schützenhaus. Die Gebäude des Schützenvereins waren vollgestopft mit Möbeln, die man aus den verlassenen Wohnungen der vertriebenen Deutschen zusammengetragen hatte.

Am nächsten Tag gingen wir durch das Lager um nach Bekannten zu suchen. Im Nachbarhaus fanden wir unsere Tante Eva mit ihrer Mutter; Tante Eva war ausgebombt. Am 8. April 1945 hatte eine Bombe das Haus, in dem sie wohnte, getroffen und weil es an einem Sonntag geschah an dem sie zu ihrer Mutter nach Dreihof gefahren war, ist ihr nichts passiert. Ihre Wohnung war total ausgebrannt und einige Tage später stürzte sie in einen Bombenkrater ab. Eine Flüchtlingsfamilie aus Sagan in Schlesien, die in einem Zimmer der Wohnung lebte, verlor dabei ihre ganze mit viel Mühe gerettete Habe.

Die größte Sorge, die uns im Lager beschäftigte, war die Frage, wo wird man uns hinschicken. Jeder hatte Angst, der Transport könnte in die russische Zone gehen. Nach einigen sorgenvollen Tagen kam die Erlösung, unser Ziel sollte Hessen in der amerikanischen Zone sein.

Am Sonntag den 16. Juni wurde unser Gepäck von einer Transportkolonne in einen Güterzug verladen. Am Abend wurden wir schwer bewacht zum Bahnhof in Eger geführt. An beiden Seiten der Kolonne gingen Soldaten, mit Gewehren im Anschlag. Auf dem durch amerikanische Bomben schwer beschädigten Bahnhof stand der aus etwa zwanzig Viehwaggons bestehend Transportzug. Es war der Transport Nr.12 und wir waren für den Waggon Nr.10 eingeteilt. Da der Transport aus über 1.000 Personen bestand, wurden in jedem Waggon etwa 50 Personen eingeladen. Jeder suchte sich zwischen den Gepäckstücken ein bequemes Plätzchen, denn die Fahrt sollte zwei Tage dauern. Bis zum Morgen des 17. Juni blieb der Zug auf dem Bahnhof stehen, die Wagen von außen fest verschlossen und von Soldaten bewacht. Am Morgen ging die Fahrt in Richtung Bayern endlich los und die trostlose Warterei ging zu Ende. Bei der Fahrt über die Grenze warfen wir alle unser Armbinden, die wir in der Tschechei dauernd tragen mußten, aus dem Waggon auf den Bahndamm. Wir hatten die Heimat für immer hinter uns gelassen, doch so richtig begriffen haben wir das erst im Laufe der Zeit. Abgelenkt durch die täglichen Aufregungen, kam man gar nicht dazu, darüber nachzudenken, was mit uns geschah. Die wenigen Optimisten unter uns glaubten, in einigen Jahren dürften wir wieder heimkehren. Doch die Pessimisten, die in der Mehrheit waren, sollten recht behalten, eine Heimkehr war ausgeschlossen.

In Bayern fuhr der Zug erst einmal bis Wiesau.  Dort wurden wir registriert und mit einer großen Pulverspritze desinfiziert Als erste Verpflegung gab es ein Stück Wurst und einige Semmeln. Für viele Menschen war dies ein unvergeßlicher Augenblick, denn in der Tschechei durfte an die Deutschen kein Fleisch und auch keine Wurst verkauft werden. Auf den Lebensmittelkarten gab es dafür keine Abschnitte. Nur wer etwas Kleinvieh gerettet hatte oder einen Garten hatte, konnte etwas besser leben als die vielen, die in der Stadt wohnten und keine Verwandten auf dem Lande hatten. Wir hatten neben einem kleinen Garten noch eine Ziege und einige Hühner Doch mit diesem Luxus war es auch bald vorbei. Der tschechische Kommissar, der im Nachbarhaus wohnte, kassierte nach und nach unser Viehzeug, die Eier und das Gemüse aus unseren kleinen Garten. Seit Juli 1945 war ich in Kulsam auf dem Hof des Bauern Josef Peter als Hütebub und Kleinknecht beschäftigt und konnte deshalb manchmal mit einigen Kleinigkeiten besonders mit dem raren Salz daheim aushelfen. Mein Bruder Karl hatte eine Lehrstelle beim Schreiner Mertl in Königsberg aufgeben müssen und arbeitete bei einem Bauern in Hartessenreuth. Nur mein Bruder Hermann und meine Mutter lebten noch daheim in Mostau. Über ein Erlebnis mit einem Betrüger hat sie sich noch jahrelang aufgeregt. Eines Tages nach Kriegsende kam ein junger Mann zu ihr und fragte sie, ob da eine Familie Meier wohne. Dies war natürlich nicht der Fall. Er fragte sie weiter aus über die Bewohner im Dorf und wollte auch wissen, bei welcher Familie der Mann vom Krieg noch nicht heimgekommen war. Daraufhin ging er wieder fort. Kurze Zeit später erfuhren wir, daß er bei der Familie Sommer auf dem Hofgut auftauchte und Grüße vom Ehemann, der an der Grenze in Bayern sei, ausrichtete. Er ließ sich von der Frau Sommer Bekleidung für ihren Mann geben und verschwand.  Erst als er über alle Berge war, merkten die Frauen, daß sie einem Betrüger. einem sogenannten „Grußbesteller“ aufgesessen waren.

Eines Tages, ich glaube es war Anfang 1946, gab es eine große Aufregung unter der Bevölkerung. Im Nachbarort Dobrassen war ein Raubmord geschehen. Ein am Dorfrand wohnendes Ehepaar war erschossen und ausgeraubt worden. Der Mann hatte ein Fliesengeschäft und war Ofensetzer. Die schwer hörige Mutter, die im Obergeschoß wohnte, hatte von dem Überfall nichts gemerkt. Das war wahrscheinlich ihr Glück, denn sonst hätte man sie sicher auch umgebracht. Als Täter hatte man den Gemeindekommissar, der in Mostau neben uns wohnte, im Verdacht. Er war mit Sachen aus dem Hause der Überfallenen gesehen worden. Vor einiger Zeit hat ein ehemaliger Einwohner von Dobrassen in der Egerer Zeitung geschrieben, daß er damals mit einem Fuhrwerk Sachen transportieren mußte, die sehr wahrscheinlich aus der Beute stammten. Der Auftraggeber für die Fahrt war der Kommissar.

Am Nachmittag des 17. Juni fuhr der Zug mit seiner traurigen Fracht von Wiesau ab. Wir hatten inzwischen erfahren, daß die Fahrt nach Wetzlar in Hessen gehen sollte. Kaum jemand wußte, wo der Ort lag und keiner hatte eine Vorstellung, was uns dort erwarten sollte. Wir fuhren in der Nacht über Bayreuth und Bamberg nach Aschaffenburg. Dort kamen wir morgens um 7 Uhr an. Nachts während der Fahrt gab es eine große Aufregung; die hintere Waggontür war nicht richtig verschlossen und hatte sich unterwegs langsam etwa 30 cm geöffnet. Nur mit Mühe gelang es die Tür mit einer Schnur zu sichern, um zu verhindern, daß unsere Habe hinaus fiel.

Während wir in Aschaffenburg unsere Verpflegung bei der Bahnhofsmission abholten, traf ich auf dem Bahnsteig einen ehemaligen Schulkameraden. Er sah ziemlich abgerissen aus und erzählte, daß er gerade aus dem Gefängnis käme.  Die amerikanische Militärpolizei hatte ihn wegen Schwarzhandels mit Lebensmittelkarten eingesperrt. Der junge Mann war aber auch früher schon wegen krummer Sachen aufgefallen. So hatte er sich in  Kulsam, wo er wohnte, wegen seiner Leidenschaft für Motorräder mit dem tschechischen Kommissar angefreundet. Um sich die Freundschaft des Kommisars zu sichern, bespitzelte er die Dorfbewohner und paßte auf, ob jemand Hausrat über die Grenze nach Bayern schaffen wollte. Eines Tages wurde er selbst erwischt. Der Kommissar hatte ihn fortgeschickt, ein Rad für sein Motorrad zu stehlen. Er wurde dabei entdeckt und nur durch die Fürsprache des Kommissars kam er frei. Um nicht vor Gericht zu kommen, verschwand er in der darauffolgenden Nacht über die Grenze nach Deutschland. Ein halbes Jahr nach dieser Geschichte trafen wir ihn in Aschaffenburg. Daß er auf die schiefe Bahn geriet, war sicher auch die Folge der widrigen Familienverhältnisse in denen er lebte. Seine beiden großen Brüder waren wegen der Kriegsereignisse verschollen. Die Mutter saß wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer NS-Organisation in einem tschechischen KZ. Der Vater hatte sich mit einer Frau angefreundet, deren Mann die Tschechen auch eingesperrt hatten. So kommt Eins zum Anderen und schon ist man aus dem Gleis.

Nach dem Essenholen fuhr der Zug weiter nach Wetzlar. Weil jedoch durch die Bombenangriffe in den letzten Kriegsmonaten, die Bahnanlagen in einem sehr schlechten Zustand waren, kamen wir nur langsam voran. Am Nachmittag des 18. Juni lief der Zug in Wetzlar ein. Wir waren der 12. Vertriebenentransport, der in Wetzlar eintraf. Im Zug waren 1094 Personen. Nachdem eingeteilt war, wer in welches Lager kommen sollte, brachten uns offene Lastwagen in unser Lager in Garbenheim. In einer ehemaligen Fabrikhalle standen doppelstöckige Holzgestelle mit Strohsäcken als Matratzen. Dort angekommen ging wieder die Sucherei nach den Gepäckstücken los. Bis wir alles beisammen hatten, war der Tag herum und wir legten uns hundemüde auf unsere Pritschen. Endlich konnten wir wieder vernünftig liegen, denn in den Güterwaggons hockten wir ja nur zwischen Gepäckstücken herum.

Am nächsten Tag haben wir uns erst einmal in Garbenheim umgeschaut, denn wir wollten doch sehen, wo man uns hingebracht hatte. Wir gingen zum Bismarkturm hinauf. Von dort hat man eine schöne Aussicht auf das Lahntal und Wetzlar. In Wetzlar gab es noch viele Bombenschäden. Auf dem Platz auf dem jetzt das Eulerhaus steht, war von einem ehemaligen Hotel nur das von Trümmern bedeckte Kellerwerk übrig. Der Bahnhof war ausgebrannt und trug ein Notdach. In der Altstadt gab es noch viele Ruinen. Die Menschen waren ausgehungert und viele trugen gefärbte Uniformen als Anzug. An den Füßen hatten viele Menschen Sandalen mit Holzsohle, sogenannte Klapper. Dieser Name kam von dem Geräusch, das sie beim Gehen erzeugten. Viele Schaufenster waren wegen Glasmangel mit Brettern vernagelt und die wenigen Läden waren fast leer.

Nach einigen Tagen Lageraufenthalt wurden wir auf die Dörfer im Kreis Wetzlar verteilt. Wir sollten nach Burgsolms. Am 22.Juni, einem Samstag, wurden wir samt unserer Habe auf offene Lastwagen verladen.  Dabei gab es ein großes Durcheinander und viel Geschrei. Durch das enge Zusammenleben und die ungewisse Zukunft wurde mancher zum Nervenbündel. Am schlimmsten waren alleinstehende Frauen mit kleinen Kindern daran. Sie wußten nicht, wovon sie in Zukunft leben sollten und wer ihnen eine Unterstützung zahlen würde. Es gab ja noch keine deutsche Regierung und die amerikanische Militärverwaltung bestimmte über das Leben in Hessen.

In Burgsolms angekommen, wurden wir vor der Turnhalle am Bahnhof mit Sack und Pack abgeladen. Jede Familie türmte ihre Sachen auf einen Haufen und paßte auf, daß nichts verschwand. Um uns herum standen die Burgsolmser und sahen zu, was man ihnen da für sonderbares Volk ins Dorf brachte. Die Ankömmlinge hatten so eine komische Sprache und die Einheimischen verstanden kein Wort davon, was diese Menschen da redeten.

Einige Männer von der Gemeindeverwaltung liefen mit Leuten umher und bemühten sich, die heimatlosen Ankömmlinge im Dorf unterzubringen. Bei Familien mit einem arbeitsfähigen Mann ging es verhältnismäßig leicht, denn Arbeit gab es genug und billige Arbeitskräfte waren rar. Schwieriger war es Frauen mit Kindern unterzubringen, denn die Einheimischen wohnten selbst schon sehr beengt. In vielen Häusern lebten schon Ausgebombte aus dem Ruhrgebiet und Frankfurt. Dazu kamen noch Flüchtlinge aus Schlesien und Ostpreußen. Nun sollten auch wir noch einen Platz finden. Es gab manchen Ärger und Streit und einige Familien zogen unter Polizeischutz ein. Heimat- und Besitzlose sind eben selten gern gesehen.

Wir standen als Letzte auf dem Platz und die Kommission wußte nicht so recht, was sie mit uns anfangen sollte. Die Männer redeten hin und her, wobei sie bedenkliche Gesichter machten. Nach einiger Zeit waren sie sich einig geworden und sie teilten uns mit, daß wir in die Braunfelser Straße sollten. Ein Burgsolmser Junge, der zum Gepäcktransport eingeteilt war, lud ein Bündel auf seinen Handwagen und fuhr mit uns zu der angegebenen Adresse. Es war ein schönes, ziemlich neues Einfamilienhaus am anderen Dorfende. Das Haus hatte sechs Zimmer. In der unteren Etage wohnte der Hausbesitzer, ein pensionierter Polizist, mit seiner Frau und im Dachgeschoß wohnte sein Sohn mit Frau und Kind. Der Empfang war nicht unfreundlich. Man hatte ein Zimmer im Erdgeschoß und eine Mansarde in der oberen Etage für uns vorgesehen. Die beiden Räume waren bis auf einen Zimmerofen leer. Er war kein Stuhl, kein Tisch und auch kein Bett darin. Nach und nach holten wir mit dem Handwagen unsere Sachen vom Platz vor der Turnhalle. Wir brauchten ziemlich lange, bis wir alles abgeholt hatten. Der Weg war etwa ein Kilometer lang und weil es nur ein kleiner Handwagen war, mußten wir einige Male hin- und herfahren bis wir alle Sachen im neuen „Heim“ verstaut hatten. Durch die vielen Transportgänge waren wir am Abend ziemlich müde und hungrig, denn wir hatten am Morgen vor der Abfahrt in Garbenheim das letzte Essen bekommen. Ein halber Laib Brot, den wir noch hatten, mußte für uns vier Personen noch bis Montag Mittag reichen. Weil es schon Samstag Nachmittag war, hatten die Geschäfte schon geschlossen. Aber wir hätten sowieso nichts bekommen, denn wir hatten ja keine Lebensmittelkarten und die waren genauso wichtig wie Geld. Eine Volksküche, die von der Gemeinde eingerichtet worden war, hatte an diesem  Tag das letzte mal Essen ausgegeben.  So mußten wir bis Montag eine unfreiwillige Hungerkur einlegen.

Ziemlich ratlos hockten wir nun in unserer neuen Wohnung auf unseren Gepäckstücken. Ein Gefühl der Trostlosigkeit bedrückte uns. Im Lager hatte man als Trost die Leidensgenossen um sich, aber jetzt kam uns die Armseligkeit unseres Daseins erst richtig zum Bewußtsein. Es war ein sonderbares Gefühl, in Zukunft bei fremden Leuten wohnen zu  müssen. Zu Hause konnten wir leben und wirtschaften wie es uns paßte und jetzt hatten sich unsere Lebensumstände gewaltig zu unserem Nachteil geändert.

Schwierigkeiten gab es auch mit der Sprache. Die hessische Mundart wirkte auf uns wie eine Fremdsprache. Dauernd mußte man nachfragen, wenn jemand mit uns sprach. Den Einheimischen ging es jedoch mit uns auch nicht besser. Unser Hauswirt fuhr einige Tage nach unserer Ankunft mit dem Zug nach Wetzlar. Als er nach Hause kam, erzählte er, daß im Zug lauter Tschechenfrauen mitgefahren waren. Er habe kein Wort von dem verstanden, was die Flüchtlingsfrauen miteinander gesprochen hatten.

Mir passierte einige Tage später folgende Geschichte. Ich kam vom Bahnhof her zu der Gastwirtschaft Braun vorbei. Ein älterer Burgsolmser fuhr gerade mit einem mit Heu beladenen Kuhgespann aus den Lahnwiesen heim. Vor der Gastwirtschaft Braun hielt er seinen Wagen an und rief mir etwas zu. Verständnislos schaute ich ihn an und fragte was er wolle. Er wiederholte seine Bitte. Ich verstand wieder nichts. Ich ging zu ihm hin und schließlich entnahm ich seinem Kauderwelsch, ich solle ihm „dei Koi haala", weil er sich eine Packung Zigaretten holen wolle.

Ab Montag nach unserer Einweisung gingen wir erst einmal zur Anmeldung auf das Bürgermeisteramt. Als Ausweis bekamen wir einen Registrierungsschein mit zwei Fingerabdrücken. Außerdem erhielten wir endlich unsere Lebensmittelkarten. Anschließend holten wir bei der Firma Loh zwei Einheitsbetten und zwei Stühle ab. Als drittes Bett bekamen wir ein amerikanisches Notbett. Es wurde für die nächsten fünf Jahre, bis zum Umzug in eine andere Wohnung, meine Liegestatt. Dann gingen wir zu einen Bauern im Dorf und füllten unsere Strohsäcke. Einige Tage später bekamen wir von einer Nachbarin auch einen gebrauchten Herd. Der nutzte uns nicht viel, denn wir hatten weder Holz noch Kohlen zum Feuern. Das Wasser mußten wir im Keller holen, denn in der Mansarde, die wir als Küche benutzten, befand sich weder ein Wasserhahn noch ein Ausguß. Da wir keinen Küchenschrank hatten, stand das Geschirr auf dem Fußboden herum. An dem Tisch, den wir bekommen hatten, konnten immer nur drei Personen zu gleicher Zeit sitzen. Ein eisernes Bett, das wir später für unsere Mutter in den Raum zwängten, diente als Ablage und Sitzbank.

Als nächstes stellte sich die Frage, wo bekommen wir eine Lehrstelle oder Arbeitsplatz her. Auf Empfehlung des Hauswirts bewarb ich mich bei der Firma Kling in Oberbiel um eine Lehrstelle als Schlosser. Nachdem ich Bewerbung, Lebenslauf und mein Arbeitsbuch, als Nachweis über meine Lehrzeit bei den Flugzeugwerken in Eger abgegeben hatte, erhielt ich die Zusage, daß ich am 22. Juli als Lehrling anfangen könne. Ein Jahr meiner Lehrzeit in Eger wurde mir angerechnet. Als Lehrlingsbeihilfe erhielt ich sechs Reichsmark in der Woche. Mein Bruder Karl konnte seine Lehre bei einem Schreiner in Burgsolms fortsetzen. Hermann erhielt einen Arbeitsplatz als Hilfsarbeiter bei der Firma Schütz. die landwirtschaftliche Geräte herstellte. Er erhielt 50 Pfennig als Stundenlohn. Bis wir eine staatliche Unterstützung bekamen, haben wir von diesem Geld gelebt. Der Jüngste war unser Ernährer. Die Versorgung mit Lebensmitteln war in der ersten Zeit noch ausreichend, wurde aber im Laufe der Zeit immer schlechter. Tagelang haben wir nur von einer dünnen Kartoffelsuppe und einigen Scheiben Maisbrot gelebt. Von ihren Bettelgängen brachte unsere Mutter auch nicht viel heim. Erst nach der Währungsreform im Jahr 1948 besserte sich unsere Lage und man bekam immer mehr und bessere Waren zu kaufen. Im Jänner 1948 kam unser Vater aus der französischen Kriegsgefangenschaft heim. Nach acht Jahren war unsere Familie wieder vollzählig beisammen, aber unter heute kaum vorstellbaren Verhältnissen. Heute haben wir ein gesichertes Leben, aber wir sollten diese Zeit nicht vergessen. Dazu soll auch dieser Bericht beitragen.